Die vier Buchstaben NEST stehen für ein weltweit einzigartiges Patchwork-Haus für neue Technologien. Unter realen Bedingungen werden hier innovative Baustoffe, Energie- oder Beleuchtungskonzepte getestet. Die Idee für NEST stammt von Peter Richner, dem stellvertretenden Direktor der Empa.
Ein solches Haus hat es noch nie gegeben. NEST sieht futuristisch aus und steht auf dem Gelände der Empa, der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt in Dübendorf bei Zürich. Salopp gesagt handelt es sich um eine haushohe Konstruktion aus Betonplatten, zwischen die einzelne Wohn- oder Büroelemente geschoben werden. Daraus ergibt sich von aussen betrachtet ein Patchwork aus unterschiedlichen Fassaden: viel Holz, viel Glas, aber auch eine leuchtend grün-blaue Einheit mit Fenstern, die optisch heraussticht. Dazwischen sieht man den massiven Beton, der das Ganze zusammenhält.
Wandelbare Plattform
NEST steht für Next Evolution in Sustainable Building Technologies und ist eine Plattform für Forschung und Industrie, um nachhaltige Materialien und Techniken im Baubereich zu testen und laufend zu verbessern. Peter Richner, stellvertretender Direktor der Empa und Leiter des Departements Ingenieurwissenschaften, ist der geistige Vater von NEST. Er nennt es scherzhaft den «Traum jedes Bauunternehmers», denn zum Konzept gehört, dass das Haus nie fertig gebaut ist. Immer wieder kommen «Units» dazu oder werden ausgewechselt – Testeinheiten, die mit neusten Technologien ausgerüstet sind und hier im 1:1-Gebrauch geprüft werden. Denn NEST ist kein Labor, sondern eine belebte Wohn- und Büroumgebung, die jeden Tag rege genutzt wird.
In einigen Einheiten wohnen Studierende oder werden wochenweise Gäste wie Forscher und Entwickler zum Übernachten untergebracht. In anderen sitzen jeden Tag Leute an Computern und arbeiten, und im Fitnesscenter trainieren über Mittag oder abends die Mitarbeitenden der Empa und Eawag. NEST ist eine gemeinsame Initiative der Empa mit der Eawag, der Eidgenössischen Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz. Diese ist auf demselben Gelände in Dübendorf domiziliert.
NEST ist neuartig und aufsehenerregend. Peter Richner sagt, das Interesse daran sei riesig. «Monatlich führen wir rund tausend Besucher durch das Gebäude, das vor drei Jahren eröffnet wurde.» Und das Haus hat schon diverse Preise gewonnen. Anfang dieses Jahres verlieh das Bundesamt für Energie den Watt d’Or-Preis für das Forschungs- und Innovationsgebäude. «Eine grosse Anerkennung für das, was wir machen», sagt Richner. «Der Watt d’Or-Preis ist eine Ermutigung für uns, diesen Weg weiterzugehen.»
Optimierte Energienutzung
Seine Begeisterung für NEST – das eigentlich auch sein Traumhaus ist – kommt deutlich zum Vorschein, wenn er selber Gäste durchs Gebäude führt. In der «Urban Mining & Recycling» beispielsweise leben zwei Studenten in einer Wohngemeinschaft. Es handelt sich um eine gemütliche Dreizimmer-Wohnung, die komplett aus wieder verwertbaren oder bereits rezyklierten Stoffen gebaut ist. Die Idee ist, Bauwerke als eine Art «temporäre Materiallager» zu betrachten. Die verwendeten Materialien werden für eine bestimmte Zeit genutzt und später, wenn sie ersetzt werden müssen, wieder in den natürlichen Kreislauf zurückgeführt: ein Gedanke, der sich auf den Bau jedes Einfamilienhauses umsetzen lässt.
Alle Hölzer in der Wohnung sind unbehandelt. Die Riemen des Parkettbodens weisen unterschiedliche Breiten auf. Der Baum, von dem das Holz stammt, konnte somit optimal ausgenutzt werden. Eine Lehmwand enthält natürliche Fasern, die später einfach verrotten, und die Abdeckung der Kochinsel ist aus rezykliertem, gepresstem Glas gefertigt. Die massiven Türgriffe aus Bronze – heute Designobjekte – stammen ursprünglich aus einer Bank in Belgien. Eine grün-rot-graue Wand im Wohnzimmer besteht aus gepressten Tetrapackschnitzeln, die der Oberfläche eine besondere Struktur verleihen. Der grosse Vorteil, wie Richner sagt, ist der Langzeittest: «Materialien können über eine Zeit von mehreren Jahren im realen Gebrauch geprüft werden.»
Der stellvertretende Empa-Direktor führt Besucher gerne auch in die Unit «SolAce». Hier stehen Möbel aus Karton: ein Tisch, ein paar Hocker und Stühle, ein Sofa, ein Sessel und in der Mitte ein Salontischchen. Im Raum daneben gibt es zwei Nischen zum Übernachten, ein Bad mit WC und Dusche, und in der Einheit stehen auch eine Küchenzeile und vier Arbeitsplätze mit Computern zur Verfügung. Ziel von «SolAce» ist es, neue Technologien zur Optimierung der Fassade für die Energienutzung zu testen. Mit den Massnahmen soll gleichzeitig die Wohn- und Arbeitsatmosphäre verbessert werden.
Dynamik zwischen Forschung und Industrie
Getestet werden zum Beispiel Fenster mit eingebauten Mikrospiegeln, die von Auge unsichtbar sind. Diese Spiegel lenken das Sonnenlicht im Winter an die Decke des Raumes, so dass ein diffuses Licht entsteht. Die Nutzer werden nicht geblendet, und das Zusammenspiel der Sonne mit den Spiegeln sorgt dafür, dass der Raum gleichmässig aufgeheizt wird. Im Sommer lenken die Mikrospiegel die Sonnenstrahlen von den Gläsern ab.
Eine anderes Beispiel sind kleine Sensoren, die an den Computerbildschirmen befestigt sind. Sie messen aus Sicht der arbeitenden Person die Lichtverhältnisse beziehungsweise die Blendeffekte. Mit Hilfe der Sensoren werden die Storen und die Beleuchtung so gesteuert, dass für die Nutzer jederzeit eine angenehme Lichtsituation entsteht. Peter Richner sagt, einzigartig seien bei NEST die neuartigen Konsortien, die entstehen. «Industrie und Forschung gehen Kooperationen ein. Materialien und Technologien werden hier laufend weiterentwickelt, bis sie marktreif sind. Dieser Prozess wird dank NEST enorm beschleunigt.» Bereits jetzt sind aus dem Projekt einige neue Produkte entstanden. «Die Dynamik ist enorm; NEST bringt viel in Bewegung.»
Internationales Interesse
Der 59-jährige Richner ist promovierter Chemiker und arbeitet seit fast dreissig Jahren bei der Empa. Spricht man ihn darauf an, dass die Initialzündung für NEST von ihm stammt, winkt er sofort ab: «So etwas realisieren Sie nicht allein. Da war ein grosses Team beteiligt.» Ihn freut besonders, dass Ideenreichtum belohnt wurde. «Wir leben in einer privilegierten Welt, in der so etwas möglich ist.» Die Baubewilligung stellte allerdings eine kleine Hürde dar: Die zuständige Dübendorfer Behörde fragte sich, wie sie ein Haus bewilligen soll, das nie fertig ist. Schliesslich gelang es der Empa und der Eawag, die theoretisch maximale Hülle bewilligen zu lassen.
Das Beispiel des innovativen Patchwork-Hauses könnte übrigens in anderen Ländern Schule machen. Die tausend Besucher, die das Haus jeden Monat besuchen, stammen aus aller Welt. «In Südkorea gibt es Interessenten, die sich für eine Reproduktion von NEST interessieren», sagt Peter Richner. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass der innovative Geist aus Dübendorf bald nach Asien reist. Er hat einen Schatz an Erfahrungen weiterzugeben.
www.empa.ch/de/web/nest
Text: Rebekka Haefeli, Fotos: Gaëtan Bally
aus: Das Einfamilienhaus, Heft Nr. 4/2019